Eine Kurzgeschichte über Vertrauen und digitale Gewalt. Ausgezeichnet mit dem hr2-Literaturpreis 2019.
Mutter, du brauchst mich nicht zu fahren. Okay, na gut. Lass mich dann bitte schon hier raus. Du musst nicht vorfahren, Mutter. Nein, du bist mir nicht peinlich. Lass mich einfach den Rest laufen. Danke, mir geht es gut. Die Trennung ist fast drei Wochen her. Nein, ich werde ihn bestimmt nicht sehen.
Endlich ist große Pause. Kurze fünfzehn Minuten. Heimlich stecke ich das Handy und die Kopfhörer in meine Hosentasche, laufe nach rechts Richtung Pausenhof, um kurz vorher zu den Toiletten abzubiegen. Handys sind auf dem Schulgelände verboten. Ein kleiner Trost für mich. Ich höre sowieso nur noch Musik auf dem Ding, habe alle sozialen Netzwerke gelöscht. Facebook, WhatsApp, Instagram und Snapchat. Ich vermisse nichts.
Das Gute an der Goetheschule ist, dass die Toiletten immer sauber gehalten werden. Es riecht kaum. Ich bin früh dran, nur zwei der fünf Kabinen sind besetzt. Ich nehme die ganz hinten an der Wand. Schließe mich ein, klappe den Klodeckel zu und setze mich im Schneidersitz darauf, atme tief ein und aus. Anfangs hatte ich Angst, dass der Klodeckel durchbricht. Und wenn schon, denke ich mir heute. Ich krame meine Kopfhörer aus der Hosentasche und das Handy. Noch knapp vier Songs Zeit für mich. Jemand rüttelt an der Kabinentür. Es ist mir egal. Ich schließe die Augen. Sofort tauchen die Bilder aus dem Video auf. Ich lasse die Augen offen.
Ja, ich habe schon alle Hausaufgaben erledigt. Nein, ich muss jetzt nicht noch mal raus. Ich war heute schon draußen. Doch, die Schule zählt, da haben wir auch Sportunterricht. Ich räume jetzt mein Zimmer auf. Nein, ich bin nicht nur am Computer und am Handy. Nein, Lena kommt heute nicht vorbei. Ich weiß, sie war schon lange nicht mehr da. Sie hat viel zu tun.
*
Nein, Mutter, du brauchst mich heute nicht zu fahren. Okay, na gut. Lass mich dann bitte hier raus.
Wie jeden Morgen laufe ich durch die Gänge, auf dem Weg zu meinem Klassenraum. Den Blick auf meine Schuhspitzen gerichtet. Es gibt keinen Grund, nach oben zu schauen. Dann sehe ich doch nach rechts, bevor ich die Tür öffne. Eine Gruppe von Jungs entdeckt mich. Sofort fangen sie an, ihre Becken vor- und zurückzuschieben. Sie lachen, klatschen sich gegenseitig ab. „Nicht so schnell“, ruft einer. Jeder hat das Video gesehen. Ich knalle die Klassentür zu.
Nein, ich will die Hausaufgaben nicht vorstellen. Ja, ich habe sie gemacht. Nein, trotzdem nicht. Muss ich nach vorn kommen? Geht es nicht von meinem Platz aus? Na gut.
Ich stehe vorn, lese vor. Ich starre auf die Blätter in meiner Hand.
Ja, ich kann die Lösung auch auf das Whiteboard schreiben.
Ich greife nach einem Stift, er rutscht mir aus der Hand. Ich höre Gelächter. Ich bücke mich, hebe ihn auf. „Nicht so schnell“, höre ich hinter mir. Mein Gesicht glüht. Mein Herz hämmert laut.
Darf ich mich wieder hinsetzen?
Große Pause. Heimlich stecke ich das Handy und die Kopfhörer in meine Hosentasche, laufe nach rechts Richtung Pausenhof, um kurz vorher zu den Toiletten abzubiegen. Ich bin zu spät. Draußen stehen sie schon Schlange. Ich drehe mich um, will wieder zurück. „Hey, nicht so schnell, du Schlampe“, höre ich. Wieder dieses Lachen. Ich laufe weiter.
Ja, ich habe schon alle Hausaufgaben erledigt. Nein, ich muss jetzt nicht noch mal raus. Danke, ich will nicht mit einkaufen kommen. Vielleicht kannst du mir aber Kaugummis mitbringen.
*
Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Kann schon sein, dass ich Fieber habe. Doch, ich fühle mich aber sehr warm. Mutter, ich bin krank. Lass mich bitte ausruhen!
Ich knalle meine Zimmertür zu. Ich krame meine Kopfhörer und das Handy aus der grünen Schultasche. Heute habe ich ganz viele Songs Zeit für mich.
*
Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Ich will liegen bleiben. Lass mich. Geh raus, ich bleibe liegen.
*
Tschüss, Mutter, du brauchst mich nicht zu fahren. Nein, ich möchte heute laufen.
Vor dem Schulgelände kommen gerade zwei Busse an. Weiter hinten stehen mehrere Fünftklässler im Kreis. Im Vorbeigehen sehe ich, wie sie auf ein Display starren. Ich höre Davids Stimme. Ich höre meine Stimme. Ich höre mein Stöhnen. Ich sehe mich. „Nicht so schnell, David. Langsam.“
Ohne zu zögern, durchbreche ich den Kreis, reiße den Kleinen das Handy aus der Hand, versuche, das Video zu löschen. Sie wehren sich nicht. Ich schmeiße das Handy vor ihre Füße. „Das Video ist überall“, rufen sie mir hinterher. Ich betrete das Schulgebäude nicht.
Er hatte versprochen, dass wir das nur für uns beide drehen. Er hatte das versprochen.
*
Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Ich will liegen bleiben. Lass mich. Geh raus, ich bleibe liegen.
*
Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Ich will liegen bleiben. Lass mich. Geh raus, ich bleibe liegen.
*
Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Ich will liegen bleiben. Lass mich. Ich bleibe liegen.
„Schatz, die Schule hat angerufen, sie möchten mit dir reden. Sie sagen, es geht um ein Video?“
Geh raus.
- hr2-Literaturpreis 2019
- Junges Literaturforum Hessen-Thüringen 2019 (1. Platz)
- Jugend-Literaturpreis 2018/19 der OVAG (Preisträgerin)
Dieser Text wurde veröffentlicht in:
- „Nagelprobe 36“ (Allitera Verlag), herausgegeben vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und der Thüringer Staatskanzlei
- „Gesammelte Werke“ – Jugend-Literaturpreis 2018
Berichterstattung (Auswahl):
- Wetterauer Zeitung I
- Gießener Allgemeine
- Gießener Anzeiger
- Wetterauer Zeitung II
- Wetterauer Zeitung III
- Oberhessen-live.de
- Frankfurter Neue Presse