Vogelfrei

Poetry & Prosa

Diese Kurzgeschichte handelt von der Thematik der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (#hatespeech). Sie wurde 2020 mit dem 3. Platz des Nachwuchsautorenpreises „Hessischens Literaturforum Hessen-Thüringen“ ausgezeichnet.

Eine junge Frau liegt alleine auf dem Sofa in einer Wohnung eines mehrstöckigen Wohnhauses. Es ist ein kalter Freitagabend im Dezember. Es soll schneien. Vielleicht schneit es auch schon, sie weiß es nicht. Ihre halbleere Rotweinflasche steht neben dem Sofa.

Sie hat die Heizung runtergedreht und sich ein schwarzes Nachthemd angezogen. Die Benachrichtigungsfunktion auf ihrem Handy hat sie ausgestellt. Ihre Wangen sind gerötet, sie hält das Handy mit beiden Händen fest, schaut auf den Bildschirm und lacht. Bergziegen, die versuchen, einen Hang hochzuklettern.

Das Video stoppt. Das Display leuchtet auf. Es ist ihr Kollege.

Leben im Flüchtlingslager Samos: Gezwungen, die Gesetze zu brechen

Politik & Gesellschaft

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Zwischen Müllbergen, Ratten und Fäkalien müssen die Geflüchteten in Samos leben. Fotos (c) Farnaz Nasiriamini.

Karam I. (27) kommt aus Gaza, Palästina. Seit knapp einem Jahr lebt er auf der griechischen Insel Samos. Dort leben nach offiziellen Angaben knapp 5300 Menschen, das überfüllte Flüchtlingslager war ursprünglich nur für knapp 600 Menschen eingerichtet worden. Die Geflüchteten dürfen die Insel nicht verlassen, weil laut Grundlage des EU-Türkei-Deals und des sogenannten Hotspot-Konzepts ihr gesamtes Asylverfahren auf der Insel erfolgen muss. Wegen der katastrophalen Zustände im Lager kam es zuletzt zu schweren Krawallen zwischen den Bewohnern, es folgte ein Brand.

Karam versucht Konflikte zu meiden und die Zeit bis zu seiner Anhörung zu überbrücken, die erst im Jahr 2021 stattfinden soll. Weil er keinen Platz mehr im Lager bekam, lebte er eine Zeit lang in einem Zelt im sogenannten „Dschungel“, einen Slum rund um das Flüchtlingslager herum zwischen Müllbergen und Ratten. Als er das nicht mehr aushalten konnte, beschloss er, sich stattdessen eine Holzhütte mit Zementboden im Dschungel zu bauen. Er war schon inmitten der Umsetzung, als ihm sein Vorhaben aus Umweltschutzgründen versagt wurde. Karam baute die Hütte trotzdem.

Arme Künstler:innen: Über das gestörte Verhältnis zu der Wertigkeit von Medien und Kultur

Politik & Gesellschaft

Dieser Beitrag ist für eine Sendung des Hessischen Rundfunks (hr2) entstanden.

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Kultur wird gerne konsumiert und genossen, entsprechend entlohnen möchte man die Freischaffenden dafür allerdings nicht. (c) Foto Karen Arnold.

Luisa hat schon wieder eine fünf im Deutschtest geschrieben. Sie hat Angst, nicht versetzt zu werden und sucht sich eine Nachhilfelehrerin. Die Nachhilfelehrerin hilft Luisa und sie wird versetzt.

Luisa zahlt der Nachhilfelehrerin zehn Euro pro Stunde.

Luisa hat erfolgreich die Schule und das Studium beendet und möchte sich für die Arbeit in der Kulturabteilung bei der Stadtverwaltung bewerben. Dafür muss sie ihre Zeugnisse beglaubigen lassen. Sie sucht sich eine Notarin, beglaubigt ihre Dokumente und kann sich bewerben.

Shortstory: Es ist überall

Poetry & Prosa

Eine Kurzgeschichte über Vertrauen und digitale Gewalt. Ausgezeichnet mit dem hr2-Literaturpreis 2019.

Mutter, du brauchst mich nicht zu fahren. Okay, na gut. Lass mich dann bitte schon hier raus. Du musst nicht vorfahren, Mutter. Nein, du bist mir nicht peinlich. Lass mich einfach den Rest laufen. Danke, mir geht es gut. Die Trennung ist fast drei Wochen her. Nein, ich werde ihn bestimmt nicht sehen.

Endlich ist große Pause. Kurze fünfzehn Minuten. Heimlich stecke ich das Handy und die Kopfhörer in meine Hosentasche, laufe nach rechts Richtung Pausenhof, um kurz vorher zu den Toiletten abzubiegen. Handys sind auf dem Schulgelände verboten. Ein kleiner Trost für mich. Ich höre sowieso nur noch Musik auf dem Ding, habe alle sozialen Netzwerke gelöscht. Facebook, WhatsApp, Instagram und Snapchat. Ich vermisse nichts.

Das Gute an der Goetheschule ist, dass die Toiletten immer sauber gehalten werden. Es riecht kaum. Ich bin früh dran, nur zwei der fünf Kabinen sind besetzt. Ich nehme die ganz hinten an der Wand. Schließe mich ein, klappe den Klodeckel zu und setze mich im Schneidersitz darauf, atme tief ein und aus. Anfangs hatte ich Angst, dass der Klodeckel durchbricht. Und wenn schon, denke ich mir heute. Ich krame meine Kopfhörer aus der Hosentasche und das Handy. Noch knapp vier Songs Zeit für mich. Jemand rüttelt an der Kabinentür. Es ist mir egal. Ich schließe die Augen. Sofort tauchen die Bilder aus dem Video auf. Ich lasse die Augen offen.

Ja, ich habe schon alle Hausaufgaben erledigt. Nein, ich muss jetzt nicht noch mal raus. Ich war heute schon draußen. Doch, die Schule zählt, da haben wir auch Sportunterricht. Ich räume jetzt mein Zimmer auf. Nein, ich bin nicht nur am Computer und am Handy. Nein, Lena kommt heute nicht vorbei. Ich weiß, sie war schon lange nicht mehr da. Sie hat viel zu tun.

                                               *

Nein, Mutter, du brauchst mich heute nicht zu fahren. Okay, na gut. Lass mich dann bitte hier raus.

Wie jeden Morgen laufe ich durch die Gänge, auf dem Weg zu meinem Klassenraum. Den Blick auf meine Schuhspitzen gerichtet. Es gibt keinen Grund, nach oben zu schauen. Dann sehe ich doch nach rechts, bevor ich die Tür öffne. Eine Gruppe von Jungs entdeckt mich. Sofort fangen sie an, ihre Becken vor- und zurückzuschieben. Sie lachen, klatschen sich gegenseitig ab. „Nicht so schnell“, ruft einer. Jeder hat das Video gesehen. Ich knalle die Klassentür zu.

Nein, ich will die Hausaufgaben nicht vorstellen. Ja, ich habe sie gemacht. Nein, trotzdem nicht. Muss ich nach vorn kommen? Geht es nicht von meinem Platz aus? Na gut.

Ich stehe vorn, lese vor. Ich starre auf die Blätter in meiner Hand.

Ja, ich kann die Lösung auch auf das Whiteboard schreiben.

Ich greife nach einem Stift, er rutscht mir aus der Hand. Ich höre Gelächter. Ich bücke mich, hebe ihn auf. „Nicht so schnell“, höre ich hinter mir. Mein Gesicht glüht. Mein Herz hämmert laut.

Darf ich mich wieder hinsetzen?

Große Pause. Heimlich stecke ich das Handy und die Kopfhörer in meine Hosentasche, laufe nach rechts Richtung Pausenhof, um kurz vorher zu den Toiletten abzubiegen. Ich bin zu spät. Draußen stehen sie schon Schlange. Ich drehe mich um, will wieder zurück. „Hey, nicht so schnell, du Schlampe“, höre ich. Wieder dieses Lachen. Ich laufe weiter.

Ja, ich habe schon alle Hausaufgaben erledigt. Nein, ich muss jetzt nicht noch mal raus. Danke, ich will nicht mit einkaufen kommen. Vielleicht kannst du mir aber Kaugummis mitbringen.

                                               *

Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Kann schon sein, dass ich Fieber habe. Doch, ich fühle mich aber sehr warm. Mutter, ich bin krank. Lass mich bitte ausruhen!

Ich knalle meine Zimmertür zu. Ich krame meine Kopfhörer und das Handy aus der grünen Schultasche. Heute habe ich ganz viele Songs Zeit für mich.

                                               *

Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Ich will liegen bleiben. Lass mich. Geh raus, ich bleibe liegen.

                                               *

Tschüss, Mutter, du brauchst mich nicht zu fahren. Nein, ich möchte heute laufen.

Vor dem Schulgelände kommen gerade zwei Busse an. Weiter hinten stehen mehrere Fünftklässler im Kreis. Im Vorbeigehen sehe ich, wie sie auf ein Display starren. Ich höre Davids Stimme. Ich höre meine Stimme. Ich höre mein Stöhnen. Ich sehe mich. „Nicht so schnell, David. Langsam.“

Ohne zu zögern, durchbreche ich den Kreis, reiße den Kleinen das Handy aus der Hand, versuche, das Video zu löschen. Sie wehren sich nicht. Ich schmeiße das Handy vor ihre Füße. „Das Video ist überall“, rufen sie mir hinterher. Ich betrete das Schulgebäude nicht.

Er hatte versprochen, dass wir das nur für uns beide drehen. Er hatte das versprochen.

                                               *

Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Ich will liegen bleiben. Lass mich. Geh raus, ich bleibe liegen.

                                               *

Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Ich will liegen bleiben. Lass mich. Geh raus, ich bleibe liegen.

                                               *

Nein, du brauchst mich nicht zu fahren, mir geht es nicht gut. Ich will liegen bleiben. Lass mich. Ich bleibe liegen. 

„Schatz, die Schule hat angerufen, sie möchten mit dir reden. Sie sagen, es geht um ein Video?“

Geh raus.

  • hr2-Literaturpreis 2019
  • Junges Literaturforum Hessen-Thüringen 2019 (1. Platz)
  • Jugend-Literaturpreis 2018/19 der OVAG (Preisträgerin)

Dieser Text wurde veröffentlicht in:

  • Nagelprobe 36“ (Allitera Verlag), herausgegeben vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und der Thüringer Staatskanzlei 
  • „Gesammelte Werke“ – Jugend-Literaturpreis 2018

Berichterstattung (Auswahl):

Hörbuchaufnahme, gelesen von Kristin Hunold für hr2

Kolumne zum Jahresabschluss: Die Das-war-es-noch-nicht-das-kann-es-doch-nicht-gewesen-sein-Melancholie

Politik & Gesellschaft

Ich mag es nicht, wenn das Jahr endet. Im Laufe des Dezembers schleicht sich diese gewisse Melancholie an, die ihren Höhepunkt zwischen den sogenannten Jahren findet. Sie hängt dann über den frostgefrorenen Dächern der Stadt, in jedem eisigen Atemzug, an jedem beschlagenen Autofenster und zwischen den noch nicht abgehängten Lichterketten am Weihnachtsbaum.

Kommentar: Warum wir „leichte Sprache“ brauchen

Politik & Gesellschaft

Susanne Gaschke von der WELT beschwert sich in einem Beitrag, dass eine neue Ausgabe der Wochenzeitung Das Parlament, die sich mit der Arbeit des Deutschen Bundestages befasst, „herablassend und dumm“ sei, weil sie nicht in leichter Sprache, sondern dumm geschrieben sei. Recherchezeiten kommen heutzutage immer zu kurz, daher: Was ist leichte Sprache und wieso wird sie genutzt?

Kommentar: ‘I am German when we win, but I’m an immigrant when we lose’

Politik & Gesellschaft

Dieser Beitrag wurde in leicht abgewandelter Form veröffentlicht bei Orange by Handelsblatt.

Es ist immer wieder das Gefühl, es beweisen zu müssen. Das Sein genügt nicht, schließlich zeigt deine dunkle Haarfarbe, du kannst keine echte Deutsche sein. Du bist einfach anders, kannst tun, was du willst, dein Name klingt nicht Deutsch, also bist du es auch nicht, zumindest “nicht wirklich”.